Im Oktober 2000 wurde ich durch meinen ersten Arbeitgeber nach dem Studium entlassen und somit für den Arbeitsmarkt freigesetzt. Nach einer Zeit erfolgloser Bewerbungen nervte mich dieses rumsitzen und das Geld wurde sehr knapp, da ich überhaupt keine Ansprüche auf irgendwas hatte und so beschloss ich, mein Schicksal wieder selbst in die Hand zu nehmen und als Kurier – Fahrradkurier – in Berlin zu arbeiten.
Den Starttermin vom 15. November verschob ich mehrmals, da bei einer Bewerbung plötzlich die Aussicht auf einen „richtigen“ Job bestand. Aber nachdem die Hoffnung zerschlagen war, begann ich am 10.12.00 bei den Kurieren von messenger transport logistik aus Berlin als (schein)selbständiger Fahrradkurier.
messenger war einer der ersten Fahrradkurierdienste in Berlin und (2000) seit 10 Jahren am Markt. Und irgendwie waren sie das Symbol schlechthin, wenn es um Fahrradkuriere ging. Wenn Kurier, dann bei DER Firma schlechthin.
Der Anfang war relativ einfach gemacht. Ein Gewerbe anmelden, die Steuernummer beim Finanzamt beantragen und dann ein Aufnahmegespräch mit einer kleinen Prüfung bei messenger. Und einen Vormittag noch als "Mitfahrer" einen erfahrenen Kurier begleiten.
Als Qualifikation waren vor allem gute Deutschkenntnisse und natürlich auch gute Stadtkenntnisse gefordert. Deutsch war für mich kein Problem und die Stadtkenntnisse sollten auch nicht so schwer sein. Schließlich fahre ich seit 9 Jahren in Berlin Rad.
Zur Abfrage der Stadtkenntnisse wurde ein kleiner Test geschrieben. Der erwies sich auf den ersten Blick als ziemlich schwer. Da sollten zum Beispiel die Namen der Stadtbezirke in eine Karte eingetragen werden. Sieht erst mal ganz einfach aus. Und im Osten lief auch alles gut. Aber die Bezirke der City zuzuordnen war dann schon etwas schwieriger.
Eine weitere Frage war die Zuordnung von 40 Straßennamen zu den Stadtbezirken. Die Hälfte der Straßen war kein Problem, weitere 10 konnte ich raten, aber die letzten hatte ich bisher teilweise nicht einmal gehört.
Als letzter Punkt waren noch eine Reihe verschiedener Aufträge zu kombinieren, so dass zwei zusammen passen und von der City nach Mitte führen. Im Endeffekt also eine Kombination der vorherigen Aufgaben. Aber hier halfen mir die Postleitzahlen und so war das ganze nach gut einer halben Stunde erledigt.
Dann erzählte mir Katrin, eine der beiden Kurierbetreuerinnen, noch einiges über den normalen Ablauf und die Regeln am Funk und Telefon. Einige Anmeldeformalitäten folgten, ich bekam noch eine Tasche und fertig war es.
Für mich folgte noch ein Schritt, vor dem ich mich immer gescheut hatte. Ich musste mir ein Handy zulegen. Schließlich sollte ich die ersten Wochen komplett per Telefon fahren und auch danach war es immer wieder gut, eins zu haben. Berlin hat immer noch riesige Funklöcher sowie man den Innenbereich verlässt. Sogar große Teile Kreuzbergs verschwinden fast komplett.
Mein erster Tag ist der 12.12.2000. Der Tag beginnt damit, dass ich mich kurz nach 8.00 Uhr frei melde. Also einfach in der Auftragsvermittlung anrief und mich mit Standort und der Bemerkung, dass ich frei sei, meldete. Wenn der Tag sehr gut läuft, geht es gleich los. Aber das normale ist, dass ich 20 bis 30 Minuten warte.
Wenn ich den Auftrag dann habe – also, wenn ich mit dem Dispatcher reden "darf", heißt es zu sagen, wann ich in etwa da bin und loszudüsen. Aber ehe es losgehen kann, muß ich erst noch auf die Karte schauen. Dann geht es aber doch los.
Der Tag verläuft ohne große Pausen. Aber die Aufträge folgen nur nacheinander, da ich ja auch alles nur telefonisch regeln kann und so wird es, wie ich später noch merken soll, ein eher normaler Tag mit gut 150 DM Umsatz.
Nach gut einer Woche bin ich so weit eingearbeitet, dass ich auch eine Funke bekomme, es öffnen sich für mich neue Wege. Allerdings ist das Lauschen des Funks und Finden des richtigen Zeitpunkts anstrengend und schwierig und so entgehen mir am Anfang einige Aufträge, obwohl ich fast vor der Tür stehe.
Der Winter 2000/01 ist nach langem mal wieder ein richtiger Winter mit für Berliner Verhältnisse sehr viel Schnee. Aber außer, dass Schneetage meist auch irgendwie kalt sind – äh wirklich ??? – sind sie für mich als Bikekurier fast immer die besten!
Lag es daran, dass andere messenger bei dem Wetter keinen Bock auf Arbeit hatten oder haben die Firmen mehr geschickt? Egal. Dazu kommt aber auch, dass mir das Fahren bei Schnee auf den Straßen sicherer vorkam.
Es gab zum Glück nie irgendwelches plötzliches Glatteis sondern immer so viel Schnee, dass sich eine feste Schneedecke bildete oder eine Menge Schneemehl auf den Straßen lag. Auf jeden Fall fuhren die Autos sehr vorsichtig und zeigten sogar Verständnis, wenn ich auf "ihrer" Straße fuhr.
Einer meiner besten Tage war auch fast mein letzter Tag der 22.01.2001. Als ich kurz nach 8.30 anrief, ging es gleich los. Zeitungen waren vom S-Bahnhof Friedrichstraße in die Reinhardtstraße zu bringen.
Der S-Bahnhof war schnell erreicht, dann musste ich erst noch den richtigen Zeitungsladen suchen. Denn es gab zwei vom gleichen Unternehmen hier. Und natürlich habe ich mich zuerst für den falschen entschieden.
Zur Reinhardtstraße sind es nur wenige Minuten und so war der Auftrag schnell abgearbeitet. Als nächstes sollte ich drei Adressen vom Büro aus anfahren. Zum Büro sind es ca. 10 Minuten. Eigentlich schon eine ganz schön weite Anfahrt, aber drei Adressen lohnen trotzdem.
Die Adressen sind in Mitte und Kreuzberg. Und bedeuten ca. 40, 45 Minuten Arbeit. Also schnell losfahren und immer schön auf den Funk hören. Und auf dem Weg nach Mitte kann ich auch gleich noch einen weiteren Auftrag nach Kreuzberg mit einpacken.
So läuft es den ganzen Tag relativ ruhig dahin. Dann habe ich einen vom Potsdamer Platz in die Boxhagener Straße und bekomme noch einen von der Humboldt-Uni in die Lange Straße. Der Hunger wächst und so mache ich an der Boxhagener eine Pause. Und denke, nun wirst Du hier erst mal warten können. Aber gerade, als ich den Döner hinunter gewürgt hatte, klingelt plötzlich das Telefon. (Der Friedrichshain liegt auch im Funkloch) Und ich erhalte einen Auftrag vom Friedrichshain in den westlichen Wedding.
Heute schneit es und der Funkempfang ist extra schlecht und so stelle ich die Funke wieder ab, nachdem ich mich kurz von der Karl-Marx-Allee gemeldet habe. Und dabei noch einen Auftrag von der Schönhauser Allee Richtung City West bekommen hatte.
Aber plötzlich fängt die Funke an wild zu piepen. Ich werde direkt gerufen und Karsten fragt mich ob ich denn schlafe. Denn er hat noch einen fast um die Ecke von der Schönhauser in die gleiche Richtung. Aber ich verstehe ihn so schlecht, dass ich anrufen muß.
Und schließlich hat er mir noch einen weiteren weggeklickt. So kann ich mit 4 Aufträgen aus dem Osten in die City fahren, das lohnt. Liegt es am Schnee oder warum habe ich heute so ein Glück?
Auf dem Weg in die City lausche ich wieder aufmerksam dem Funk. Schließlich will ich gleich wieder einen Auftrag von der City zurück haben. Nachdem ich dann zwei oder drei gute nicht bekommen habe, weil ich am Funk einfach zu langsam oder leise war, habe ich endlich einen, wenn auch „nur“ vom Kudamm nach Wedding und Pankow.
Über die Pankstraße geht es weiter zur Voltastraße, wo zum Beispiel das Deutschlandradio sitzt. Auf dem Weg dahin kann ich gleich einen weiteren von der Voltastraße nach Mitte abfassen. Aber in der Voltastraße wird es dann mal wieder kompliziert.
Eine der Firmen ist einfach nicht zu finden. Nicht mal der Pförtner weiß etwas. Und so muß ich in der Zentrale nachfragen. Aber da bekomme ich gleich einen weiteren Auftrag nach Mitte und kann den erst mal abholen.
Als ich dann erneut nachfrage, wo denn die Firma sitzt, bekomme ich endlich die genaue Lagebeschreibung und kann ausliefern. Die beiden Lieferungen nach Mitte sind schnell erledigt, die Letzte bringt mich zum Hausvogteiplatz. Und so geht mein erfolgreichster Tag fast vor der Haustür zu Ende. Wenn es immer so wäre, herrlich.
Aber leider gibt es dann auch immer wieder diese trägen langsamen Tage, wo ich ewig warten muss oder zu jedem Auftrag immer noch extra hinfahren muss oder wo ich einfach das Gefühl habe, die am Funk ignorieren mich oder andere sind immer schneller.
Gerade im Winter ist Warten extra schlecht, da ich dann irgendwo in der Kälte stehe und versuche mich mit schönen Gedanken warm zu halten oder mir die Schaufenster ansehe oder auch die Passanten.
Und gibt es auch die Tage, wo überall um mich herum tierisch was los ist und genau da, wo ich stehe die totale Totenstille herrscht. Und da macht es nicht mal Sinn irgendwo hinzufahren, wo ich denke da passiert was. Denn, wenn ich dann weg bin und zwei drei Kilometer entfernt, dann ruft der Dispatcher genau für mich einen Auftrag gleich um die Ecke von meinem alten Standort aus. Dann kann ich bloß noch schnell fahren, um halbwegs zügig da zu sein.
Meine Kurierkarriere endete fast so plötzlich, wie sie begonnen hatte. Im Januar hatte ich vier Bewerbungsgespräche, von denen zwei erfolgreich waren und so konnte ich mir sogar noch einen Job aussuchen – wollte ich nun Bauleiter oder doch lieber Planer werden?
Ich entschied mich für den Bauleiter, das Angebot klang zwar etwas abenteuerlich, versprach aber mehr Perspektive und wenn es nicht klappt, könnte ich nach einem Monat Pause sicher auch wieder als Kurier fahren. Dazu kam es dann aber nicht mehr.
An normalen Tagen hatte ich einen Umsatz zwischen 170 und 200 DM und bin so um die 100 Kilometer durch Berlin gefahren. Der Rekord lag aber bei über 300 DM nach oben und nur ca. 120 DM am unteren Ende.
Gefahren bin ich meist zwischen 100 und 120 Kilometern am Tag, das sind ca. 5 bis 6 Stunden und dazu kommen noch die vielen Treppen, die ich zu Fuß gehen musste oder oft auch wollte. Fahrstühle nerven und den richtigen Überblick übers Gebäude kriegst Du auch nicht.
Kurierfahren und dabei Geld verdienen zu wollen, heißt vor allem viel unterwegs sein und lange arbeiten. Ich begann meist gegen 8.00 Uhr und war nie vor 19.00 Uhr zu Hause, oft auch erst weit nach 20.00, da es gerade zum Abend noch eine Reihe von Nachtsendungen geben kann, die von diversen Büros bis 20.00 Uhr in die Zentrale zu bringen sind.
Außerdem heißt es auch, ständig ein aufmerksames Ohr an der Funke zu haben und schnell schalten zu können. Eine gute Orientierung und auch das Erkennen und Kombinieren von Aufträgen hilft ungemein. Nicht immer hast Du einen Dispatcher am Funk, der Dich so gut verfolgt, dass es oft passt.
Der Verdienst war o.k. – allerdings auch gerade so ausreichend. Und entsteht vor allem durch die permanente Bereitschaft, Aufträge zu übernehmen und lange zu arbeiten. Leider war ich im Januar einige Tage krank und hatte auch noch diese 4 Bewerbungsgespräche, wo ich auch komplett ausfiel, so daß der Verdienst dann doch sehr von meinen laufenden Kosten aufgefressen wurde.
Was bei der ganzen Sache aber noch wichtig ist: Ich habe es geliebt mit dem Bike unabhängig durch die Stadt zu fahren, denn ich hatte es in der Hand, was passiert. Und ich hatte auch eine Menge Spaß, trotz oder gerade wegen Schnee, Kälte, Regen.
Das vielleicht auch als Tip an die, die überlegen, auch einmal als Kurier zu fahren. Es ist insgesamt ein sehr harter Job, wenn man es nur als Job sieht, aber gleichzeitig ist es auch wie eine lange Tour, manchmal wie ein Rennen gegen Dich oder die "Anderen".
Und es ist etwas für Überzeugungstäter - wer nicht davon überzeugt ist, daß er oder sie es tun MUSS!, der sollte einfach die Finger davon lassen und sich einen Platz hinter dem Ofen suchen.
© STW 2001-06